FAZ Relics

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FEUILLETON, SAMSTAG, 12. MÄRZ 2016

Wahnbilder einer versunkenen Epoche


Von Andreas Kilb

Das Deutsche Historische Museum zeigt Fotografien von Martin Roemers
Relikte sind der Müll der Erinnerung. Man will sie loswerden, aber sie bleiben kleben, im Gedächtnis, im Körper, an der Oberfläche der Erde und darunter. Atomschutzbunker beispielsweise braucht bis auf weiteres niemand mehr, aber es gab eine Zeit, in der kaum eine europäische Regierung auf sie verzichten mochte. Diese Zeit ist in ihre Gänge und Konferenzsäle eingeschlossen. Sie verwittert darin wie eine Schrift auf einem Grabstein. Relikte, könnte man sagen, sind die Grabschrift abgestorbener Epochen.
 
Der holländische Fotograf Martin Roemers hat Orte aufgenommen, die die Spuren des Kalten Krieges tragen: Schutzbunker, Übungsplätze, Versorgungslager, Schrotthalden, Soldatenfriedhöfe. Manche seiner Fotos wirken wie Schnappschüsse, etwa die Aufnahme eines polnischen Militärflugfelds, auf der ein Hund ans Bugrad eines MiG-Bombers pinkelt. Andere, wie das Bild eines halb in der Ostsee versunkenen Küstenbunkers im lettischen Liepaja, sind mit langen Belichtungszeiten aufgenommen, so dass das Meer auf ihnen wie aus weißem Beton gegossen erscheint. Beides, das Momenthafte und Plötzliche wie das Erstarrte und Lebensferne, gehört zum Wesen der Epoche, die im Herbst 1989 zu Ende ging.
 
Der T-55-Panzer auf dem Truppenübungsplatz in Altengrabow ist von zahllosen Volltreffern durchlöchert. Weil er im Freien verrostet, wirkt er belebter als die Kommandozentralen im brandenburgischen Prenden oder unter dem belgischen Kemmelberg, wo nur das Design der Tische und Schaltmodule gealtert ist. Man meint zu spüren, wie die Luft in den Räumen steht, so wie man den Schimmel auf den abblätternden Wandbemalungen der Kasernen und Freundschaftshäuser zu riechen glaubt. Über dem vermauerten Eingang eines polnischen Soldatenkinos reicht eine Victoria mit roter Fahne dem knienden Kriegshelden den Siegerkranz. Mit dem Zusammenbruch des östlichen Imperiums ist auch ein ganzes Alphabet von Symbolen erloschen, vom steinernen Urahn Lenin, dessen Trümmer in einem Freizeitpark in Vilnius vermodern, bis zum Sputnik, der auf einem Wandbild aus dem Jagdfliegerhorst Altes Lager in Niedergörsdorf prangt.
 
Eine der bizarrsten Fotografien von Roemers zeigt den Behandlungsstuhl eines Frauenarztes im ehemaligen sowjetischen Militärhospital von Jüterbog. Der Stuhl ist umgekippt, seine Gestänge, auf die die Patientinnen ihre Beine legten, ragen wie Folterinstrumente in die Höhe. Man glaubt den Film vor sich zu sehen, dem dieser Raum als Kulisse dienen könnte. In den siebziger und achtziger Jahren, als hier noch operiert wurde, galten die dystopischen Landschaften aus Tarkowskis „Stalker“ und Béla Tarrs „Verdammnis“ vielen als Wahnbilder, Ausgeburten fiebernder Künstlerhirne. Heute sieht man, dass sie der Wirklichkeit nur um ein paar Jahrzehnte voraus waren. Roemers’ jüngste Aufnahmen entstanden vor sieben Jahren; inzwischen dürften manche der Orte, die er fotografiert hat, schon wieder verschwunden sein. So ist auch der Verfall nur ein Zwischenzustand der Geschichte, die über alles hinweggeht, was sich überlebt hat.
 
Das Deutsche Historische Museum zeigt die von Roemers selbst kuratierte Auswahl seiner großformatigen Fotos im Untergeschoss des Pei-Baus, in einer abgedunkelten, gleichsam bunkerhaften Präsentation, die allein von Punktstrahlern erhellt ist. Das Museum füllt so wenigstens vorübergehend eine seiner wichtigsten didaktischen Lücken, denn der Kalte Krieg ist ein unübersehbarer Schwachpunkt der Dauerausstellung im Zeughaus. Obwohl die Kraftlinien des Ost-West-Konflikts im geteilten Berlin und an der innerdeutschen Grenze konvergierten, war er keine mitteleuropäische Angelegenheit. Die Landkarte der Orte, die Martin Roemers mit der Kamera zeichnet, reicht von Mittelengland bis nach Skandinavien und auf die Krim. Damals begann die Globalisierung des Krieges, den der islamistische Terror heute in die Städte des Westens trägt. Nur gibt es dort keine Schutzräume mehr.      Andreas Kilb