Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6-10-2014
Blinde Blicke
Von Andreas Kilb
Porträtfotos von Martin Roemers zeigen in Berlin unsichtbare Welten
Edith van der Meulen war dreizehn Jahre alt, als sie in Nijmegen von einer deutschen Splitterbombe getroffen wurde. „Auf der Straße bekam ich plötzlich einen Schlag ins Gesicht und sah nichts mehr.“ Sie hörte, wie ihre Schwester neben ihr auf den Boden fiel. „Später war sie tot, und ich war blind.“ Das Ende einer Kindheit im Krieg.
Der holländische Fotograf Martin Roemers hat Menschen porträtiert, die durch den Krieg oder seine Hinterlassenschaften ihr Augenlicht verloren haben, und sich ihre Geschichten angehört. Vierzig dieser Fotos und die dazugehörigen Geschichten zeigt das Deutsche Historische Museum in Berlin jetzt in einer kleinen Ausstellung, die nur einen Bruchteil der Fläche belegt, welche die Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im Tiefgeschoss und die „Targets“-Schau von Herlinde Koelbl im ersten und zweiten Stock einnehmen, aber eine notwendige Ergänzung zu deren Bildern von Tod und Zerstörung, Schießscheiben und Zielschießen darstellt. Denn es sind Gesichter im Frieden, die man hier sieht, und zugleich keine friedlichen Gesichter. Der Schock, der sie versehrt hat, ist in ihre Züge eingegraben, als tiefe Narbe, als leere Augenhöhle, als verschleierter, nirgends Halt findender Blick. Und als Ausdruckskraft.
Denn Blinde zeigen sich nicht. Sie erscheinen. Sie spielen kein Spiel mit der Kamera, sondern ziehen den Apparat in ihre innere Wahrheit hinein. Das Bild zeigt keinen Augenblick, sondern erzählt „die Geschichte einer unsichtbaren Welt“, wie sie der Schriftsteller Cees Nooteboom auf den Fotos von Roemers erkannt hat. Die Schicksale, die auf den Texttafeln daneben verzeichnet sind, fangen je verschieden an, aber sie kommen immer wieder an den gleichen Punkt. Ein deutscher Jagdflieger hat fünfundzwanzig alliierte Bomber abgeschossen, bevor er im April 1945 von drei Spitfires verfolgt wird. Ein russischer Junge spielt mit seinem Freund, der ihm einen Eisenzylinder zeigt. Ein englischer Soldat geht auf Patrouille in der Nähe von Caen. Ein paar Hitlerjungen setzen sich vor einen Blindgänger. Das jüngste der Kriegsopfer ist 1970 geboren, eine Frau, die als Zwölfjährige die Explosion einer Panzermine in einer Scheune überlebt hat. Ihre drei Spielkameraden sind tot.
Nur die Toten hätten das Ende des Krieges gesehen, lautet ein Bonmot des spanischen Philosophen George Santayana. Wenn das stimmt, dann geht in den Augen dieser Blinden der Krieg weiter. Der Rest ihres Gesichts aber erzählt eine andere Geschichte. Er habe ein gutes Leben als Maschinenschlosser mit vier Kindern gehabt, sagt Frederick Bentley, der Roemers auf die Idee zu seinem Fotoprojekt gebracht hat. „Ich hatte ein schlechtes Leben“, gibt dagegen ein russischer Greis zu Protokoll, der beim Kampf um Berlin verletzt wurde und später jahrzehntelang Einkaufsnetze flicken musste. Es gibt eben doch kein Kollektivschicksal. Es gibt nur den Weg, den jeder Einzelne geht.