Photonews

Photonews, Jan. 2016

„Ich arbeite nur noch an meinen Projekten“

Der Fotograf Martin Roemers

Text und Interview: Gunda Schwantje

Hier ist er also zu Hause, der Fotograf Martin Roemers, im romantischen Delft. Grachten, weiße, halbrunde Brücken, Kirchtürme, die hoch über der Altstadt thronen. Radfahrer, Fußgänger, viele Touristen; Absätze klackern auf uraltem Kopfsteinpflaster. Das Tempo ist beschaulich in dieser Universitäts-stadt mit ihren gut 100.000 Einwohnern. Delft ist seit Jahren Roemers Standort. Doch der Fotograf ist sehr viel unterwegs. Bereits am Beginn seiner Karriere war das so, damals fotografierte er oft in Deutschland, in der ehemaligen DDR und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Für sein gerade fertig gestelltes Projekt Metropolis hat er in den vergangenen Jahren 22 Megastädte besucht, das sind fast alle Metropolen weltweit. Megastädte,in denen mindestens 10 Millionen Menschen leben. Er selbst wuchs in einem Dorf auf, im Norden der Niederlande. Bereits als Junge wusste er, dass er Fotograf werden wollte. Er machte eine Berufsausbildung. Sie reichte ihm nicht, deshalb schrieb er sich an der Kunstakademie in Enschede ein. Er wollte visuelle Geschichten erzählen, das war sein Traum. Martin Roemers fotografiert inzwischen seit mehr als zwei Jahrzehnten. Er ist international bekannt durch Langzeitprojekte wie The Eyes Of War, Relics Of The Cold War und eben Metropolis. Roemers wird durch Galerien in New York, Dubai und Paris vertreten, durch sechs Fotoagenturen, darunter laif, und seine Arbeiten werden in internationalen Medien veröffentlicht, u.a. in The New York Times, Geo, Newsweek. Das Gespräch mit dem 53jährigen findet in seinem Studio statt. An den Wänden eigene Fotografien, viele Bücher, durch hohe Flügeltüren schaut man auf eine Sonnen-terrasse. Er lebt hier mit seiner Frau. Wir nehmen Platz vor der schönen Aussicht, ockerfarbenes Blattwerk rankt über eine verwitterte Mauer. Ein kontemplatives Bild. Welch ein Kontrast zu seinen Metropolen…

Gunda Schwantje: Was hat Sie veranlasst, sich den Megastädten dieser Welt zu widmen?

Martin Roemers: Ich war oft in Bombay. Bombay ist extrem chaotisch, hektisch, dort leben sehr viele Menschen auf ein paar Quadratmetern Fläche. Es scheint niemanden zu kümmern, dass es keinerlei Privatsphäre gibt. Der Lärm ist ungeheuerlich. Die Menschenmassen sind überwältigend. Bombay macht einen unorganisierten Eindruck, aber dieser Schein trügt. Ich wollte der Atmosphäre, die ich in Bombay spürte, nachgehen. Das bildete die Inspiration zu Metropolis.

Sie haben 22 Megastädte mit jeweils mehr als 10 Millionen Einwohnern besucht. Städte wachsen in rasendem Tempo. Nach welchen Kriterien sind Sie vorgegangen?

Alle zwei Jahre gibt die UN ein Update heraus, der Bericht von 2015 weist bereits 29 Megastädte aus. China hat jetzt sechs, als ich begann in 2007, gab es drei Mega-städte in China. Die stärksten Migrationsströme vollziehen sich in Asien, dort befinden sich auch die meisten Megastädte.

Sie haben in Nordamerika, Südamerika, Europa, Afrika und Asien fotografiert. Welche Gemeinsamkeiten sind Ihnen aufgefallen? Wo liegen die Unterschiede?

Städte in Indien, Pakistan, Bangladesch ähneln sich. Man muss Orts-kenntnis haben, um zu identifizieren, das hier ist Dhaka, Kalkutta, Karatschi. Es wird völlig unkontrolliert gebaut. Aus der Sicht eines Stadtplaners ist das schlicht eine Katastrophe. Aber gerade den Mangel an Organisation finde ich hochinteressant. In China dagegen geschieht nichts planlos. Chinas Straßenbild ist aufgeräumter, gradliniger als das europäischer oder amerikanischer Städte.

Konzept von Metropolis ist, Fotos mit langer Verschlusszeit von erhöhtem Standort aus aufzunehmen. Die Energie einer Stadt, der Flow,die ungeheure Menge an Aktivitätin Megastädten ist in den Fotogra-fien gut sichtbar. Auch haben Sie einzelne Personen scharf abgebildet, diese Menschen treten aus der Masse heraus. Worauf haben Sie geachtet beim Fotografieren?

Ich habe immer einen Standort gesucht, der nicht zu hoch ist, etwa ein Fenster oder ein Dach. Sonst hätte ich den Kontakt mit dem, was auf der Straße geschieht, verloren. Ich zeige die Infrastruktur einer Stadt, die Gebäude, Straßen, Reklameschilder, Bewegungen, Energieströme und außerdem Szenen, die sich auf der Straße abspielen. Entscheidend für mich ist die Balance. Schauen Sie mal (Wir gehen zu einer Vergrößerung, die im Wohnraum hängt. Istanbul, der TaksimPlatz). Es geht mir um die Kombination von Menschen, die daraufwarten, die Straße zu überqueren,um den Strom des Straßenverkehrs. Ich registriere genau, was sich in meinem Bildausschnitt andienen wird. Wer oder was wird ins Bild treten. Eine kleine Geschichte muss erzählt werden. Eine Person, die interessant ist, muss innerhalb der Be-lichtungszeit von einigen Sekunden stillstehen. Nur so wird das Beson-dere sichtbar. Auf diesem zentralen Platz hörte ich plötzlich viel Lärm. Ich sah, dass ein Demonstrationszug vorbeiziehen würde. Der Flow be-stand aus roten Fahnen. Die Situation war ein Geschenk für mich. Ich versuche, so viele Details wie möglich im Auge zu haben. Man kann höchstens fünf, sechs Personen beobachten, und dann geschehen außerdem noch viele Dinge. Ich fotografiere analog, auf Film. Das Resultat sehe ich erst zu Hause. Ich habe nur mein Gefühl, das mir sagt, dass ein Bild gut ist.

Seit 2009 lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. In 2050 werden es laut dem UN-Bevölkerungsfonds 70 Prozent sein, habe ich einem Essay im Buch entnommen. Die Auswirkungen müssen enorm sein.

Es hat große Konsequenzen für den Städtebau. Der Druck auf den Raum ist immens, Flächen werden teurer. Grünflächen sind von größter Bedeutung. Es leben Menschen in Metropolen, die niemals aus ihrer Stadt herauskommen.

In China soll in 2050 eine Metropole rund um Peking entstehen, Jing-Jin-Ji genannt, mit 139 Millionen Einwohnern, schreibt Professor Ricky Burdett, Städtebauexperte, in Metropolis. Was denkenSie, wenn Sie diese Zahl hören?

Das sind Größenordnungen, bei denen ich mir nichts vorstellen kann! Wenn ich in einer Megacity ankomme und aus dem Flugzeug schaue, sehe ich nichts anderes als Stadt bis zum Horizont. Es geht um Migration, es zeigt den großen Strom vom flachen Land in die großen Städte…

Und die Bevölkerungsexplosion…

Es ist aber nicht überall so. Es gib tauch Megastädte, die schrumpfen. Eine Stadt mit 10 Millionen ist bereits endlos. Aber noch viele Male so viele Menschen? Rationell begreift man es wohl, aber es ist sehr schwer vorstellbar, wie so etwas aussehen wird.

Menschen gehen in Städte in dernHoffnung auf ein besseres Leben. Es gibt Stadtbewohner, denen das gelingt und solche, die in Slums am unteren Rand der Gesellschaft ihr Leben fristen. Was war Ihnen besonders wichtig bei der Serie?

Ein Thema, auf das ich geachtet habe, ist die Hygiene. Es gibt tausende Menschen, die jedes Jahr sterben aus Mangel an Hygiene. (Er zeigt ein Foto aus Bombay auf seinem iPad.) Diese Männer müssen den Strand als Toilette nutzen, sie wohnen nebenan im Slum. Es ist ein echtes Problem, dass nicht genug Infrastruktur vorhanden ist, dass sanitäre Einrichtungen fehlen. Das hier ist im Herzen Bombays aufgenommen. Etliche Aufnahmen sind politisch, zum Beispiel das Foto vom Times Square, New York, ein ikonischer Ort. Dort war eine kurze Demonstration gegen Guantanamo. Oder die jährlich stattfindende Gay Parade in Buenos Aires, eine politische Aktion und ein Fest. Stadt be-deutet ja Ökonomie, Kultur, Politik.

So viel zu Metropolis, nun zu Ihren anderen Projekten. Sie haben die westlichen Truppen in Afghanistan fotografiert, die Serie über die Kriegsblinden gemacht, The Eyes Of War, und die Geschichte über die Landschaft und Architektur des Kalten Krieges, Relics Of The Cold War. Es fällt auf, dass Sie sich immer wieder intensiv mit dem Thema Krieg beschäftigen, mit den Spuren eines Krieges. Warum tun Sie das?

Die Aufmerksamkeit für Krieg hatte ich bereits in meiner Jugend. Mein Großvater war während des Zweiten Weltkriegs Widerstandskämpfer gegen die deutschen Besatzer. Er erzählte davon. Es hat mich sehr beeindruckt, es hatte großen Einfluss auf meine Interessen. Ich bin kein Kriegsfotograf. Ich interessiere mich für Geschichte und Politik. Die Erscheinungsform davon sind Konflikte und Kriege. Ich bin im Kalten Krieg aufgewachsen. Bereits als Schüler ging es um Atomwaffen, Demonstrationen, die Atombombe. Eines der wichtigsten zeitgeschichtlichen Ereignisse meines Lebens ist der Fall der Mauer. Schon während meiner Studienzeit hatte ich eine S/W-Serie über russi-sche Liegenschaften in der DDR fotografiert. Ich habe die Auswirkun-

gen des Umbruchs, das Ende einer Ära, reifen lassen und erst Jahre später Relics Of The Cold War gemacht. Ich habe die verlassenen Kasernen,die ehemalige Grenze und die Orte fotografiert, an denen die Atomwaffen stationiert waren. Nach einigen Jahren wurde der Verfall gut sichtbar, das machte es umso interessanter. Diese Geschichte verkörpert das Ende einer Ära.

In The Eyes Of War zeigen Sie im Zweiten Weltkrieg Erblindete aus allen am Krieg beteiligten Ländern. Durch diese Herangehensweise stellen Sie die Folgen eines Krieges noch viel zentraler dar, da alle, Freund oder Feind, Kriegsopfer waren und gemeinsam das Schicksal teilten, ihr Augenlicht verloren zu haben. Sie haben Kurzbiographien dazugestellt. Die Blinden könnten sehr verbittert sein, aber sie sind es nicht. Das hat mich erstaunt.

Die Porträtierten waren alle schon alt. Sie haben ihr Schicksal längst akzeptiert. Sie haben Familien, Jobs – und die Behinderung. Dass Menschen durch Krieg erblinden können, ist eine Tatsache. Ich hätte diese Serie auch in Afghanistan fotografieren können. Dann hätte ich mit jungen Menschen zu tun gehabt, die erst vor kurzem erblindet wären. Man bekäme eine völlig andere Geschichte. Durch Krieg zu erblinden, ist universell. Es geschieht gegenwärtig.

Ein ähnlich breiter Ansatz liegt Relics Of The Cold War zu grunde und macht den Mehrwert dieser Arbeit über den Kalten Krieg aus.

Ja, denn es sind die selben Abwehr-mechanismen, die selben Ängste, in Ost und in West. In allen beteiligten Ländern herrschte dasselbe Misstrauen, die Länder nutzten die selben Verteidigungsmethoden. Alles ist total ähnlich, an beiden Fronten,das zeigt umso mehr, wie bizarr der Kalte Krieg eigentlich war

Sind das Statements gegen Krieg?

Nein, ich bin kein Aktionist.

Aber Sie haben doch Dokumente gemacht.

Meine Botschaft ist nicht ‘Nie wieder Krieg’. Ich produziere meine Geschichten in auf Fakten basierter Weise. Daraus kann jeder selbst seine Schlüsse ziehen.

Sie arbeiten seit Jahren an Langzeitprojekten. Solche Projekte kosten viel Geld. Wie finanzieren Sie das?

Ich arbeite nur noch an meinen Projekten, ich mache eigentlich nichts anderes mehr, nur noch ganz selten nehme ich einen Auftrag an. Ich habe Einnahmen aus dem Verkauf in Galerien, aus Printverkauf, durch die Ausstellungen und die Bild-agenturen. In die Kriegsgeschichten habe ich selber investiert. Metropolis war sehr teuer. Ich musste viel reisen, Autos mieten, Assistenten bezahlen, das Filmmaterial. Das war eine Kombination aus Förderungen und eigener Investition.

Durch den Verkauf in Galerien geht Ihre Arbeit in die Kunstwelt ein. The Eyes Of War, Relics Of TheCold War sind harte, schwierigeThemen. Wie funktioniert das mit Sammlern von Kunstfotografie?

Eine Serie wie die Kriegsveteranen oder Kriegsblinden verkauft sich nicht so schnell an private Sammler.Die Bilder sind eher für Kollektionen von Museen geeignet, das Rijksmuseum hat die Serien gekauft. Relics Of The Cold War, die Landschaften, kaufen Museen und private Sammler. Ich weiß im Voraus, dass das Portrait eines Kriegsblinden seinen Weg in die Galerien sehr viel schwieriger finden wird. Aber diese Themen will ich machen, finde sie wichtig. Ich gehe davonaus, dass die Bilder in museale Kollektionen aufgenommen werden.

Sie haben mit journalistischer Fotografie begonnen und sind jetzt auf dem Kunstmarkt gut vertreten. Wie haben Sie das gemacht?

Zielstrebig darauf hingearbeitet. Ich investiere sehr viel Zeit in die Dinge, die ich produziere. Ich untersuche immer genau, wie ich ein Projekt am Besten entwickeln kann,und arbeite eine Idee vollständig aus. Ich stelle die Projekte so her, dass sie interessant sind für ein Museum, für ein Buch, für eine Sammlung. Es braucht viel Zeit, so arbeiten zu können. So etwas muss wachsen. Aber das ist immer das Ziel gewesen. Ich arbeite aus Leidenschaft, nur deshalb funktioniert es, sonst wäre mir dies nicht möglich gewesen.